Ein Jahr ist seit dem Satz von Angela Merkel vergangen. Wie fällt die Zwischenbilanz aus? Das Land hat sich verändert: Aus meiner Sicht zum positiven, die überwältigende Hilfsbereitschaft ist ein sehr gutes Zeichen für unser Land, auf das wir stolz sein können. Die viel zu hohen Umfragewerte für ausländerfeindliche Parteien und die viel zu vielen Anschläge auf Unterkünfte stehen auf der anderen Seite. Klar ist: Die Aufnahme der Flüchtlinge und die Unterbringung sind teils gelöst, teils noch offen. Die Integration hat begonnen, die vielen Engagierten und Willkommensinitiativen arbeiten konstant daran. Hier steht aber noch viel Arbeit und eine große gesellschaftliche Anstrengung an.
Die Flüchtlingsthematik ist das bestimmende Großthema in Deutschland. Das ganze Land diskutiert es, oft genug polarisiert, sehr emotional und in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Dabei ist die Welt weder schwarz noch weiß, weder die schlimmsten Befürchtungen noch die größten Hoffnungen sind eingetreten. Deshalb ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass „wir es schaffen“ können, eine Beruhigung und Versachlichung der Debatte. Zu oft wird noch mit Klischees gearbeitet, zu wenig dagegen differenziert und sich gegenseitig zugehört.
Und es muss eine Grundlage entstehen, worüber wir eigentlich sprechen. Denn der Satz „wir schaffen das“ hat auch Fragen aufgeworfen: Wie wollen wir das schaffen? Was ist mit „das“ eigentlich genau gemeint? Zur Zwischenbilanz, aber auch zum „wie“ der Integration möchte ich die folgenden Impulse und teils ganz persönlichen, subjektiven Erfahrungen beitragen. Diese stammen nicht zuletzt aus meiner Arbeit im Integrationskreis Poll (http://integrationskreis-poll.de), den ich seit Beginn koordinieren darf.
Ausgangspunkt: „Die“ Flüchtlinge gibt es nicht
Es ist keine Gruppe, es sind wahllos zusammengewürfelte Menschen, die sich fast alle vorher nicht kannten. Vielleicht wie in einer ganz normalen Nachbarschaft: Deren Einwohner sind auch keine homogene Gruppe, auch wenn sie von außen zum Beispiel als „Bewohner der Bismarckstraße“ oder „Kinder der Stegerwaldsiedlung“ vielleicht so wirken. Syrer und Afghanen und Roma unterscheiden sich als Gruppen und innerhalb dieser natürlich auch nochmal ganz wesentlich voneinander. In der Außenwahrnehmung sind wir auch alle erstmal Deutsche, aber hier zu Hause wollen zum Beispiel schon Kölner und Düsseldorfer nicht wirklich gerne in einen Topf geworfen werden. Kurz: Zuschreibungen von Gruppeneigenschaften lassen sich nie automatisch auf den Einzelnen anwenden. Jeder Mensch ist anders.
Mit Flüchtlingen sprechen statt über sie
Sich mit Geflüchteten direkt zu unterhalten, hat für mich einen großen Unterschied gemacht. Aus einer abstrakten Gruppe werden konkrete Personen mit Gesichtern, Geschichten und Ansichten. Für die eigene Wahrnehmung kann das ein „Aha-Erlebnis“ sein. Viele haben vielleicht unterbewusst eine Schublade im Kopf, von armen hilfsbedürftigen Menschen oder von einer bedrohlichen anonymen Masse. Für beides besteht kein Anlass! „Die Flüchtlinge“ sind Individuen, völlig unterschiedlich, meistens gut informiert und sich ihrer Situation bewusst. Eben so wie wir. Die meisten erlebe ich als offen und sympathisch. Dazwischen gibt es ein paar komische Typen, ein paar nicht so nette und ein paar, mit denen man sicher kein Kölsch trinken will. Eben so wie bei den Deutschen auch, und wie bei jeder anderen Gruppe der Welt.
Und sie haben sich nicht vorstellen können, dass es in ihrem friedlichen Land heute noch Krieg geben könnte oder einen Anlass zu fliehen. Eben so wie wir.
Wenn jeder, auch jemand, der AfD wählt, der bei Pegida mitläuft oder der auch nur eine Schublade im Kopf hat, sich mit den Flüchtlingen in seiner Nähe mal unterhalten würde – und sich wirklich auf sie einlässt, geduldig zuhört, ihre Lage ernsthaft nachzuvollziehen versucht – dann wäre schon einiges für die Integration erreicht und einiges an Angst vor Fremden abgebaut.
Interkulturelles Training für beide Seiten
Ein Beispiel: Ein Freiwilliger hat für eine Flüchtlingsfamilie einen Kinderwagen repariert. Eine Woche später stellt er fest, dass die Familie einen neuen Kinderwagen bekommen hat – und sie das zu dem Zeitpunkt seiner Hilfe auch schon wusste. Er fand das undankbar und unhöflich seiner Hilfsbereitschaft gegenüber. Fazit: Denen helfe ich nicht mehr, ich helfe jetzt überhaupt keinem mehr.
Schade, denn: Es stellte sich heraus, dass die Familie nicht aus Unhöflichkeit gehandelt hatte, sondern genau im Gegenteil: Für die Familie wäre es tatsächlich eine unhöfliche Geste gewesen, das Hilfsangebot abzulehnen – sogar in Verbindung mit dem Hinweis auf die anstehende Neuanschaffung! Für sie war also gerade das höflich, was wir als unhöflich empfinden würden.
Das Beispiel lässt sich natürlich nicht verallgemeinern. Aber offen sprechen hilft eigentlich immer, am besten vorher. Und die Kenntnis über die Kultur des anderen ist in jedem Fall hilfreich.
Wer sich engagieren möchte und vorbereitet sein will, kann eine Vielzahl von Informations-, Bildungs- und Kontaktangeboten nutzen. Eine großartige Übersicht für Köln bietet zum Beispiel der Newsletter der Kölner Freiwilligenagentur (weitere Infos und Anmeldung zum Newsletter unter http://www.koeln-freiwillig.de/forum-fuer-willkommenskultur).
Die Arbeit im Integrationskreis ist erfüllend
Von negativen Beispielen abgesehen, ist die Arbeit in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe die allermeiste Zeit sehr erfüllend. Für mich persönlich ist der direkte Vergleich zur Kommunalpolitik auffällig: Dort dauert es oft viel zu lange, bis eine Idee umgesetzt werden kann und Verbesserungen Realität werden. Vom Antrag auf einen Zebrastreifen bis zu dem Tag, an dem der Bautrupp die Farbe auf die Straße malt, vergehen gut und gerne Monate oder mehr. Vorher muss natürlich sehr genau geklärt werden, ob man an dieser Stelle überhaupt einen Zebrastreifen aufmalen darf und ob die Stadt überhaupt genug Geld für die Farbe hat.
Flüchtlingshilfe dagegen wirkt oft unmittelbar: Neue Kleidung, eine angeschlossene Spülmaschine oder auch ein gutes Gespräch haben direkte Auswirkungen und sorgen fast immer auf beiden Seiten für gute Laune. Auch, wenn man gemeinsam an einem längerfristigen Ziel arbeitet, wie zum Beispiel Deutsch lernen oder eine Wohnung finden, können kleine Zwischenziele motivieren. Zudem arbeitet man mit gleichgesinnten Engagierten an einem gemeinsamen Ziel. Mich beeindruckt es immer wieder, wie viele Menschen freiwillig und uneigennützig ihre Zeit und Energie einsetzen, um anderen zu helfen. Belohnt werden sie im besten Fall durch Dankbarkeit und durch das unbezahlbare Gefühl, dass der eigene Einsatz einen Sinn hat.
Wer jetzt sagt, da kann man aber dort auch Armen oder Obdachlosen in Deutschland helfen: Ja, völlig richtig! Los geht’s! Viele Ehrenamtler haben das vorher schon gemacht und machen es auch weiter. Für andere war die Ankunft der Flüchtlinge einfach der Anlass, sich zu engagieren, der vielleicht vorher gefehlt hat. Aber da spricht doch nichts gegen – jeder muss frei wählen dürfen, ob und wo er sich engagiert.
Auf der andere Seite finde ich: Wer einfordert, die Hilfe sollte „unseren“ Alten und Benachteiligten zu Gute kommen, hat das aus meiner Sicht nur dann das Recht dazu, wenn er oder sie selbst den Versuch unternimmt und sich engagiert. Wer nur auf dem Sofa sitzt und selbst keinen Finger rührt, um unsere Gesellschaft zu verbessern und sich irgendwie ehrenamtlich zu engagieren, macht sich selbst etwas vor.
Integration für alle
Deutschland hat gute Voraussetzungen. Zum einen sind wir, bei allen Problemen, ein wohlhabendes Land. Welches Land könnte sonst eine derart große Gruppe von Schutzsuchende unterbringen? Natürlich gibt es Länder, die ebenfalls sehr gut dastehen und nur sehr wenige Flüchtlinge aufnehmen. Auch brauchen wir eine europäische Lösung geben und keine nationalstaatliche. Aber schauen wir für den Moment auf uns: Größte Volkswirtschaft Europas und fünftgrößte der Welt, starkes Wachstum, fallende Arbeitslosigkeit, Haushaltsüberschuss, weltweit drittgrößte Exportnation.
Zum anderen sind die Deutschen grundsätzlich offen gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen. Die Bilder von Pegida-Demos und AfD-Anhängern zeichnen zwar ein anderes Bild. Aber laut einer Studie von Mai 2016 befürworten beeindruckende 81% der Deutschen die Aufnahme von Flüchtlingen grundsätzlich. (http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-05/integration-deutsche-fluechtlinge-aufnahme-diw-umfrage). Ob die Zahl so stimmt, kann ich nicht überprüfen – dass aber eine Mehrheit grundsätzlich der Aufnahme von Flüchtlingen positiv gegenüber steht, deckt sich mit meinen persönlichen Erfahrungen.
Bitte nicht falsch verstehen: Es ist nicht alles in bester Ordnung. Klar ist auch, dass noch viel zu tun ist: Die Unterbringung in Turnhallen ist für alle Beteiligten die schlechteste Lösung, die Registrierung ist noch nicht bei allen erfolgt. Ein großes und erschreckendes Problem sind auch die vielen Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte.
Was aber auch klar sein muss: Wenn wir „das“ schaffen wollen, müssen wir einen Plan haben, wie das gehen soll. Warum sollen wir dabei „nur“ die neu angekommenen Flüchtlinge integrieren? Warum starten wir nicht eine Offensive, die alle versucht abzuholen – auch diejenigen, die schon hier sind und schlecht integriert sind, denn die gibt es natürlich auch? Oder die „Biodeutschen“, die abgehängt sind und das Gefühl haben, dass sie keine Chance haben, vielleicht weil sie schon jahrelang arbeitslos sind und von Hartz IV leben und keine Aufgabe in der Gesellschaft finden. Oder die Jugendlichen in sozialen Brennpunkten, bei denen ich mir sicher bin, dass sich jeder in Sozialarbeit, Jugendarbeit und Bildung investierte Euro mehrfach zurückzahlen wird. Wir müssen alle mitnehmen, die sich abgehängt fühlen, und so wieder der Chancengerechtigkeit näher kommen. Diese Anstrengung müssten wir unternehmen – dann, glaube ich, können wir „es“ schaffen und dafür eine breite gesellschaftliche Zustimmung erreichen.