Eine große Mehrheit der Ungarn hat gegen feste Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen gestimmt. Das Referendum ist aber wegen zu geringer Beteiligung ungültig – für Ministerpräsident Viktor Orbán eine empfindliche Niederlage. Den Ausgang des Referendums versucht er trotzdem als Sieg darzustellen, der seine Position in Brüssel stärken soll. Ob ihm das gelingt, hängt auch davon ab, wie die anderen Europäer mit dem Ergebnis umgehen und welche Lehren sie daraus ziehen.
Zunächst die Fakten in Kürze. Die Frage an die Ungarn lautete: „Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne die Zustimmung des [ungarischen] Parlaments die verpflichtende Ansiedlung von nichtungarischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann?“ – Von den gültigen Stimmen entfielen auf „Ja“ 1,7% und auf „Nein“ 98,3%. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 43%, unter Abzug der ungültigen Stimmen noch bei 40,4%.
Entlarvend: Referendum offenbart Orbáns doppelte Geringschätzung der Demokratie
Orbán inszenierte sich mit dem Referendum vordergründig als Demokrat, der die Bürgerinnen und Bürger zu einem der aktuell wichtigsten politischen Themen befragt. Tatsächlich aber liefert dieses Referendum den Beweis, dass Orbán sich um demokratische Grundsätze im Zweifel nicht besonders schert. Denn fair und demokratisch kann man die Abstimmung nicht nennen.
Dagegen sprechen schon die massive und einseitige Kampagne für ein „Nein“ (dazu gleich mehr) und die mehr als suggestive Fragestellung. Die aggressive Rhetorik des Ministerpräsidenten tat ihr übriges, hinzu kamen die kolportierten Drohungen, dass bestimmten Ortschaften und Regionen Flüchtlinge zugewiesen werden, wenn sie beim Referendum nicht wunschgemäß abstimmen. Das kommt einer Erpressung schon recht nahe. Dass vor diesem Hintergrund mehr als die Hälfte der Ungarn dem Aufruf der Regierung nicht folgte, ist bemerkenswert und macht Hoffnung.
Natürlich darf sich eine Regierung vor einem Referendum positionieren und aus ihrer Sicht eine Empfehlung abgeben. Aber sie muss den Diskurs zulassen und darf andere Meinungen in der Öffentlichkeit nicht unterdrücken. Die Regierung Orbán hat alle möglichen und unmöglichen Mittel in eine massive Beeinflussung gesteckt. All das sind Kennzeichen eines autoritären Regierungsstils und keiner demokratischen Abstimmung. Und nach dem Referendum kommt es noch dicker: Orbán ignoriert faktisch die Tatsache, dass das Referendum gegen die Verfassung verstößt.
Sowohl im Vorfeld (Beeinflussung) als auch im Nachgang (fehlende Anerkennung) des Referendums verletzt Orbán somit die Demokratie. Tatsächlich kann man das Ergebnis des Referendums nicht als demokratisch legitimiert anerkennen. Es entlarvt Orbán als Verächter der zentralen europäischen Werte Demokratie, Toleranz und Minderheitenschutz. In der EU müssen diese Werte zum Mindeststandard aller Mitglieder gehören. Orbáns Position gegenüber den anderen Staats- und Regierungschefs dürfte sich verschlechtern.
Grenze überschritten: Hetzkampagne verfehlt ihre Wirkung bei den Ungarn
Viele Ressourcen und einen zweistelligen Millionenbetrag – in Euro, nicht in Forint! – hat Orbán in eine Hetzkampagne investiert, die unsägliche Vergleiche anstellt und jenseits aller Grenzen des politischen Anstands lag. Noch vergleichsweise harmlos unter den Sprüchen auf den omnipräsenten Großplakaten war „Wenn du nach Ungarn kommst, musst du dich an unsere Gesetze halten!“ Gefährlich verallgemeinernd waren dagegen „Wussten Sie’s? Das Pariser Attentat wurde von Einwanderern verübt“ und „Die illegale Einwanderung erhöht die Terrorgefahr“. Ressentiments gegen eine Gruppe aufgrund von einzelnen zu schüren, ist die Essenz von Rassismus und völlig unverantwortlich.
Die Regierung befördert damit die Feindlichkeit gegenüber Fremden und vor allem gegenüber Muslimen. Gerade letztere dürften den Ungarn in Wirklichkeit weitgehend unbekannt sein. Im 10-Millionen-Einwohner-Land leben laut ungarischem Botschafter rund 10.000 Muslime, das sind 0,1%. Die Sorgen der Ungarn vor dem Islam können also gar nicht auf eigenen Erfahrungen beruhen, sondern gehen in den allermeisten Fällen auf das Bild zurück, das die Medien und die Regierung transportieren. Bleiben könnte trotzdem eine negative Wirkung dieser hasserfüllten Kampagne auf das kollektive Bewusstsein, wie Amnesty International befürchtet.
Die gute Nachricht: Der massive Einsatz hat nicht geholfen. Es scheint in Ungarn eine Grenze zu geben für fremdenfeindliche Beeinflussung. Die Menschen im Land sind aufgrund der stark eingeschränkten Pressefreiheit einer ständigen Manipulation im Sinne der Regierung ausgesetzt. Doch in absoluten Zahlen haben kaum mehr Wahlberechtigte mit „nein“ gestimmt, als bei der letzten Parlamentswahl 2014 zusammen für Fidesz und die rechtsextreme Jobbik ihre Stimme abgegeben haben. Neue Anhänger in nennenswertem Umfang konnte Orbán demnach nicht gewinnen. Trotzdem sind das immer noch besorgniserregend viele: Bei besagter Wahl haben rund zwei Drittel der Wähler für diese beiden Parteien gestimmt. Immerhin, so habe ich es von jungen Leuten aus Ungarn gehört, gibt es unter ihnen Stimmen, die die Kampagne regelrecht „ekelhaft“ fanden und sich über die Ungültigkeit des Referendums freuen.
Populismus: Kein Vorbild
Orbáns Scheitern ist eine Warnung an die Populisten in Europa. Es macht Hoffnung, dass mit der Instrumentalisierung von Fremdenfeindlichkeit und dem scheinbaren Gegensatz zwischen eigener Nation und Europa dauerhaft nicht zu gewinnen ist. Adressat der Warnung ist etwa die nationalkonservative Regierung in Polen. Es sind aber auch die Populisten in Deutschland, auch und vor allem an jede im demokratischen Spektrum, die ihre Rhetorik zunehmend nach rechts verschieben, wie die CSU.
Für die EU kann der Ausgang des Referendums ein Erfolg sein, wenn die Anhänger eines einigen Europas, das auf gemeinsamen Werten basiert, sich selbstbewusst und vernehmlich zu Wort melden. Demokratie und Toleranz gehören zu den zentralen europäischen Werten, Intoleranz und ein autoritärer Regierungsstil dagegen nicht. Europa sucht in der Krise seine Gemeinsamkeiten. Die gemeinsamen Werte sollten dazu gehören.
Viktor Orbán wird dennoch innerhalb der EU mit dem Referendum argumentieren. Er wird es als Sieg darstellen, wird die geringe Beteiligung ausblenden und es auf die Aussage reduzieren, „die große Mehrheit der Ungarn will keine festen Quoten für Flüchtlinge“. Europa sollte sich darauf nicht einlassen, sondern muss dem entschieden entgegentreten: Es handelt sich um eine politische Niederlage für Orbán. Die Behauptung, dass die Mehrheit der Ungarn hinter seiner Flüchtlingspolitik steht, kann er nun nicht mehr erheben.