Sie gehört zu den beliebten Mustern rechter Trolle: Die Argumentation, dass wir Milliarden für Flüchtlinge ausgeben. Ein Thema, das zuverlässig die Emotionen hochkochen lässt. Tatsächlich kann man dieses Geld für sinnvoll investiert halten, schon weil es humanitären Zwecken dient, oder weil es größtenteils zurück in den Wirtschaftskreislauf vor Ort fließt. Die Debatte ist aber nicht nur deshalb scheinheilig.
Mehr Geld, weniger Aufregung
Das wird daran deutlich, wie schnell andere Themen, die ebenfalls mit schwindelerregenden Milliardenbeträgen zu tun haben, in der Wahrnehmung untergehen. Zum Beispiel die Meldung, dass die Allgemeinheit durch Steuerbetrug insgesamt 55 Milliarden Euro verloren hat. Mehr Geld, mehr Aufregung, sollte man meinen – oder? Falsch gedacht. Das Thema (Cum-Ex-Geschäfte) ist zwei Tage in den Medien und dann wieder verschwunden.
Wie kommt das? Warum regen wir uns kaum über die Milliarden auf, die den öffentlichen Kassen durch Steuertricks, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung vorenthalten werden? Weniger Steuern bedeuten weniger Geld für Kindergärten und Schulen, Straßen und Parks, öffentliche Schwimmbäder und Universitäten, soziale Hilfen. Weniger Geld also genau dort, wo es dringend gebraucht wird. Warum kochen bei diesem Thema die Emotionen nicht hoch?
Hohe Verluste durch Steuerbetrug
Anlass genug für Aufregung gibt es. Allein die Steuertricks von Apple kosten die EU-Staaten zwischen vier und 21 Milliarden Euro – pro Jahr. Auch Firmen wie Amazon, Ikea und Starbucks waren oder sind immer wieder in den Schlagzeilen, wenn es darum geht, die verschiedenen Steuervorschriften innerhalb der EU so auszunutzen, dass das Unternehmen möglichst viel Geld für sich und seine Anteilseigner behält und möglichst wenig an die Allgemeinheit abführt. Die EU plant inzwischen die Einführung einer Digitalsteuer, um zumindest bei den Internetkonzernen die Tricksereien zu kontern.
Auch private Steuerhinterziehung kostet alle anderen Steuerzahler viel Geld. In den vergangenen zehn Jahren kamen durch den Ankauf von Steuer-CDs und die folgenden Selbstanzeigen rund sieben Milliarden Euro in die Staatskasse. Prominentester Fall: FC-Bayern-Präsident Uli Hoeneß, der allein mindestens 43 Millionen Euro an hinterzogenen Steuern zurückzahlen musste.
Wie viel Geld der Allgemeinheit insgesamt entgeht, ist schwierig zu berechnen. In der gesamten EU fehlen allein durch Mindereinnahmen bei den Unternehmenssteuern pro Jahr rund 50 bis 70 Milliarden Euro. Unter Berücksichtigung aller legalen und illegalen Tricks gehen Experten sogar von einer unfassbaren Gesamtsumme von einer Billion Euro pro Jahr aus. Für Deutschland gibt es keine genauen Zahlen, Schätzungen nennen sehr unterschiedliche Größenordnungen zwischen 17 Milliarden und 160 Milliarden Euro. Schon die unterste Grenze dessen ist mehr als viermal der Jahreshaushalt der gesamten Stadt Köln.
Wo bleibt der Aufschrei?
Warum gibt es angesichts dieser immensen Summen keinen Aufschrei? Keine Wut, keine bleibende Aufregung? Vielleicht liegt es daran, dass die Zahlen nicht mehr greifbar sind, abstrakte Kategorien außerhalb unserer Vorstellung. Wie bei dem Beispiel mit den Fußballfeldern, die oft als Maßstab dienen müssen, etwa in „eine Fläche so groß wie 100 Fußballfelder“. Kann sich das jemand wirklich vorstellen? Wie groß ein Fußballfeld ist, ist klar, zwei oder drei kann ich mir auch noch vorstellen. Aber 100? Keine Chance.
Ebenso schwer sind die Dimensionen der astronomischen Geldsummen einzuschätzen, über die wir wie selbstverständlich diskutieren. Schon eine Million haben die allermeisten von uns niemals in ihrem Leben zur Verfügung. Mehrere Million oder gar Milliarden fallen dann nur noch in ungefähre Kategorien wie „sehr viel Geld“. Aber eine realistische Einschätzung ist kaum menschenmöglich.
Flüchtlinge sind das leichtere Feindbild
Geflüchtete dagegen sind konkret vorstellbar, sie haben Gesichter und Geschichten. Möglichkeiten, sich zu wehren, haben sie dagegen fast nie. Sie viel leichtere Feindbilder als die anonymen Konzerne und viel besser vorstellbar als die abstrakten Steuern und Milliarden. Dass der öffentliche Aufschrei bei Steuerbetrug ausfällt, zeigt einen doppelten Standard. Die Komplexität des Themas macht das nachvollziehbar. Das darf aber keine Ausrede sein. Das viele Geld, das Steuervermeidung uns alle kostet, müssen wir natürlich aus anderen Quellen ersetzen. Und das sind zu einem großen Teil – wir selbst: Mit fast 30 Prozent hat die Lohnsteuer immer noch den größten Anteil an den Steuereinnahmen des Bundes. Die Steuertrickser greifen letztlich also uns allen in die Tasche. Wir bezahlen die Rechnung, jeder Einzelne.
Schon allein deshalb verdient das Thema eine viel größere Aufmerksamkeit: Uns fehlen Milliarden wegen Steuerbetrügern. Ohne, dass das Geld humanitären Zwecken dient. Und ohne, dass es vor Ort wieder ausgegeben wird. Es ist einfach weg. Die Politik ist dringend gefordert, dieses Thema mit der Priorität zu behandeln, die es verdient. Auch wenn der öffentliche Aufschrei vorerst ausbleibt. Als Gerechtigkeitsthema stünde es gerade der SPD gut zu Gesicht, sich mit vollem Engagement in den Kampf gegen Steuerbetrug zu werfen.