Eurokrise, Flüchtlingskrise, jüngst der Brexit – die schlechten Nachrichten über die Europäische Union reißen nicht ab und zeichnen ein negatives Gesamtbild. Dabei ist es diese Union, die eine nie dagewesen Periode an Frieden und Wohlstand in Europa ermöglicht hat. Darüber kann man ruhig öfter sprechen.
Vor allem deshalb, weil die Europäische Integration an einer entscheidenden Stelle angekommen ist: Wollen wir den Weg weiter gehen, wollen wir offene Gesellschaften innerhalb einer Wertegemeinschaft sein, die auch politisch immer enger zusammenarbeitet? Oder fallen wir zurück in nationale Reflexe, schotten uns gegenseitig ab, geben unserer Angst nach und reduzieren die EU auf ein rein an wirtschaftlichen Interessen orientiertes Zweckbündnis? Diese Diskussion über das Ziel der EU müssen wir führen.
Wir brauchen eine Debatte über das Ziel
In der Selbstmanagementliteratur ist es ein Allgemeinplatz, dass man das Ziel nur erreichen kann, wenn es klar definiert ist. Gemessen daran dürfte es die großen Errungenschaften der Europäischen Union gar nicht geben. Denn das Ziel ist reichlich unkonkret, lediglich eine nebulöse „immer engere Zusammenarbeit“, die man sehr unterschiedlich interpretieren kann. Vielleicht aber konnte die EU sich bislang gerade deshalb entwickeln: Schritt für Schritt und mit dem Fokus auf dem Machbaren, ohne einen Streit über das Endprodukt. Der Weg, auf dem die Zusammenarbeit immer enger wird, ist das Ziel. Diese Phase scheint aber vorerst an ein Ende gekommen zu sein. Automatisch wird es nicht weiter vorwärts gehen.
Es liegt an unserer Generation, ob Europa auch aus der aktuellen Krise stärker und einiger hervorgeht – oder ob wir in nationale Reflexe zurückfallen und uns nicht weiterentwickeln. Denn die EU ist bei weitem nicht perfekt. Aber die großen Herausforderungen unserer Zeit können wir nur gemeinsam lösen. Die Nationalstaaten sind dafür längst zu klein. Ein Beispiel: Den Klimawandel können wir allein in Deutschland nicht verhindern, egal wie viel CO2 wir einsparen. Die Großthemen wie Wirtschaftswachstum, Innere Sicherheit und Beschäftigung lassen sich nur auf europäischer Ebene wirkungsvoll angehen – und nicht zuletzt auch die Flüchtlingssituation.
Daneben brauchen wir eine grundsätzliche Debatte über die Finalität der EU: Wohin soll der Weg führen, wie soll die EU in Zukunft aussehen und für welche Politikbereiche soll sie zuständig sein? Eine solche Debatte kann schon allein dadurch, dass sie geführt wird, zwei wesentliche Dinge erreichen: Sie kann den Menschen die Angst vor der abstrakten und scheinbar bürokratischen EU nehmen. Und sie kann den Fokus auf eine neue positive Erzählung verschieben, statt sich nur auf die Fliehkräfte zu konzentrieren. Die Mehrheit der Menschen steht der europäischen Integration nach wie vor positiv gegenüber (Eurobarometer: http://bit.ly/2ahbnxN; PEW Research Center: http://pewrsr.ch/1ZvrKcY).
Wesentlich sind vor allem aber die Antworten, die diese Debatte geben kann, und das bessere Verständnis, das durch sie entsteht – sowohl über die EU an sich als auch über Unterschiede in verschiedenen Ländern. Schon die Rolle der EU – Wirtschaftsgemeinschaft oder Wertegemeinschaft – ist offen, ebenso die Frage nach den geografischen Grenzen Europas. Ein großes Thema angesichts der Flüchtlingsthematik ist die Frage der Solidarität: Gilt sie auch in der Flüchtlingsfrage? Kann sie mit finanziellen Folgen verbunden werden? Es zeigt sich, dass wir in den verschiedenen Mitgliedern der EU unterschiedliche Auffassungen darüber haben, was die Aufgabe der Union sein soll. Dazu brauchen wir eine gemeinsame Erzählung – eine, in der sich alle Mitglieder wiederfinden, alte und neue Mitglieder, große und kleine Staaten, Integrationsskeptiker und Befürworter der Vereinigten Staaten von Europa.
Möglicherweise kommen wir auch zu dem Schluss, dass in einer EU der derzeit 28 Staaten eine abgestufte Integration sinnvoll ist. In einigen Bereichen wie Schengen, Euro oder bei der Grundrechtecharta ist sie längst Realität.
Mehr Beteiligung erreichen
Vor allem ist Europa bislang ein Projekt der Eliten. Das muss sich ändern: Europa muss auch zu einem Projekt der Menschen werden. Die kleinen Schritte der europäischen Integration waren immer Vereinbarungen der Staats- und Regierungschefs. Wenn die Bürgerinnen und Bürger befragt wurden, haben sie meist zugestimmt – aber diese Abstimmungen auch wiederholt genutzt, um ihre Unzufriedenheit zu zeigen (zum Beispiel in Dänemark 1992, in Frankreich 2005, im Vereinigten Königreich 2016).
Wir brauchen Mechanismen, die ermöglichen, dass die Menschen sich an der Diskussion über Europa aktiv beteiligen, sich in den Prozess einbringen können und dadurch stärker mit dem Projekt identifizieren. Die Bürgerinnen und Bürger müssen diese Beteiligungsformen aber auch einfordern – und nutzen. Dazu gehört auch, sich selbstständig mehr einzubringen.
Die EU hat historisches geleistet. Mir persönlich geht es so, dass ich es mir gar nicht mehr anders vorstellen kann, als im Frieden zu leben, und dass der Gedanke, dass zum Beispiel Frankreich und Deutschland Krieg führen sollten, mir völlig absurd erscheint. Wie fast alle heute lebenden Generationen bin ich so aufgewachsen. Darin liegt aber eine Gefahr: Wenn wir den Frieden zu selbstverständlich nehmen, kann es passieren, dass wir die EU als eine zentrale Quelle dieser Errungenschaft für verzichtbar halten – was sie aber nicht ist.